Esposito: „Es herrscht Chaos auf allen Seiten“

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Esposito: “Der Westen spielt ein doppeltes Spiel”

John Esposito ist kein Mann, der klare Worte scheut, wenn es um brisante politische Themen geht. Der 1940 in Brooklyn, New York City geborene Professor für internationale Angelegenheiten an der Georgetown University gilt als ausgewiesener Experte für Nahost-Politik und Islamische Studien. Im Interview spricht er über den Arabischen Frühling, die Wege aus der Krise und die Zukunft islamistischer Parteien.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage drei Jahre nach dem Arabischen Frühling ein?
Die potenzielle Gefahr des totalen Chaos besteht. Kurzfristig zeichnet sich eine gewisse Entspannung ab. Das wahre Problem liegt in der engen Verflechtung der Führungseliten sowie der westlichen Mächte mit den regionalen Militärs. Fragwürdige Regierungsgeschäfte und eine tiefgreifende Korruption sind weiterhin an der Tagesordnung.

Im Gegensatz zu Tunesien beherrscht die ägyptische Armee bis zu 40% der dortigen Wirtschaft. Diese Regierungen fühlen sich stark und mächtig, ernennen Richter und lenken die Medien. Dazu kommen westliche Mächte, die mit einem gewissen Doppelstandard diesen Zustand festigen. In der zweiten Amtsperiode von George W. Bush war der mediale Druck so hoch, dass es eine offizielle Bestätigung dieser Politik im Nahen Osten gab. Im Namen der Stabilität und Sicherheit wurden die dort herrschenden Regime nicht weiter in Frage gestellt.

Um was geht es dabei wirklich?
Es geht um wirtschaftliche Prosperität, um freien Zugang zum Öl und um den Schutz Israels. Genau hier hat der Arabische Frühling nur kurzfristig eine Änderung gebracht. Wir sind wieder mitten in diesem alten Schema, nur unter anderen Bedingungen. In Ägypten sitzen zwischen 20.000 und 40.000 politische Gefangene hinter Gittern. Folterungen sind keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Die USA und in einer schwächeren Form auch die EU arrangieren sich mit dieser Situation. Die US-Regierung weigert sich, den Militärputsch als solchen zu bezeichnen. Auch wenn die USA von einem Demokratisierungsprozess sprechen, haben wir heute so viel Gewalt wie niemals zuvor im modernen Ägypten. Und trotzdem erhält die Militärführung weiterhin Milliardenhilfen aus den Vereinigten Staaten. Zugleich sehen wir einen unglaublichen Anstieg an Repressionen…

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Besuch des amerikanischen Verteidigungsminister Chuck Hagel (Mitte) beim damaligen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi (Rechts) und General Abdel Fattah al-Sisi (Links). (Bild: US Secretary of Defense )

… gegen die Islamisten?
Gegen alle, die gegen den Coup arbeiten. Egal, ob es sich dabei um die Jugendbewegung des 6. April, Kabarettisten, Journalisten oder politische Führer verschiedenster Spektren handelt. Die Menschen erkennen, dass es keinen Demokratisierungsprozess mehr gibt. Es herrscht Chaos auf allen Seiten.

Tunesien entwickelt sich positiv, die jüngsten Wahlen geben Hoffnung.
Ja, es sieht gut aus in Tunesien. Dank einer sehr pluralistischen Mehrheit war die Revolution erfolgreich. Aber auch hier zeichnen sich problematische Entwicklungen ab: Viele Politiker des alten Regimes wiesen bei den Wahlen große Erfolge vor. Entscheidend dafür war und ist, dass die Ennahda-Partei, die die ersten Parlamentswahlen klar gewann, von ihren legitimen Ämtern zurückzutrat. Dem Parteivorsitzenden Rachid al-Ghannouchi war bewusst, dass es eine nationale Einheitsregierung und einen zivilen Staat geben muss. Nur so kann die Zukunft Tunesiens seiner Meinung nach gesichert werden. Ob die anderen oppositionellen Kräfte ebenfalls so denken oder langfristig ohne die Islamisten regieren wollen, bleibt abzuwarten. Ein Ausschluss eines derart großen Bevölkerungsanteils würde jedoch sehr rasch zu Problemen führen.

Haben diese Probleme auch mit den neuen Machtstrukturen im Nahen Osten zu tun? Türkei und Katar auf der einen Seite, die Golfstaaten auf der anderen…
Zu Beginn versuchten die Türkei und Katar einen möglichst konstruktiven Beitrag in der Neuordnung des Nahen Ostens zu leisten. Am Ende des Tages funktioniert dies aber ohne Hilfe aus den USA und der Europäischen Union nur mit massiven Einschränkungen. Die enge Allianz von Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die eine entgegengesetzte Politik in der Region führen, bringt Probleme mit sich. Die Türkei wie auch Katar verbuchen wirtschaftliche Rückschläge am Golf und werden nicht als ebenbürtige Partner von den anderen Golfstaaten angesehen. Hinzu kommen der Aufstieg des „Islamischen Staates“ und der Druck auf die Türkei, Bodentruppen zu entsenden. Ich wiederhole mich, aber egal wohin wir blicken, finden wir eine chaotische Situation vor.

Wie sieht die Zukunft von islamistischen Parteien aus, die im arabischen Raum bei allen Wahlen die Mehrheit erlangten?
Jegliche islamistische Bewegungen sind Teil der Muslimbruderschaft, entspringen dieser und stehen ihr ideologisch nahe. Der Versuch, diese vor Ort als terroristische Vereinigung zu brandmarken und diese Idee auch in Europa zu streuen, zeigt die Angst der alten Machthaber. Viele blicken auch in die Türkei, wo die AKP trotz vieler Erfolge vor großen Hürden steht. Der neue Präsident kann sich keine erneute Gezi-Protestwelle erlauben. Nur wenn die AKP für eine offene Gesellschaft eintritt, hat die Partei eine Zukunft.

In Ägypten sieht die Situation völlig anders aus und ist schwer vorhersehbar. Es sollte nicht vergessen werden, dass viele Experten – ob im Westen oder Osten – die Muslimbruderschaft unter Präsident Nasser für tot erklärten. Die zahlreichen Exekutionen und Gefängnisstrafen waren für viele eine Abschreckung. Am Ende gab es eine radikalisierte Jugend, die der Ideologie von Sayyid Qutb folgte. Die alte Garde hingegen weigerte sich einen militanten Weg einzuschlagen. Weiters spielt auch Religion in Ägypten eine entscheidende Rolle im öffentlichen Leben. Und das weiß auch (Anm.: Präsident) Sisi, der einen guten gegen einen schlechten Islam ausspielt. In einer derartigen Atmosphäre kommt es früher oder später erneut zu einem Spannungsfeld zwischen einem religiösen Mainstream und marginalisierten Gewalttätern.

Danke für das Gespräch.